Ein freier Ritter

Ein freier Ritter

Juli 2018

Als es wieder hell wurde, war er schon ein gutes Stück weiter gelaufen. Die Nacht war wieder kurz gewesen. Sehr kurz.
Einst war er ein guter Krieger. Kurz nachdem er die Weihe zum höheren Wächter empfangen hatte, wurde er vom Feind entführt. Er war nicht wachsam gewesen, hatte nichts wirklich gelernt sondern kannte nur die Worte des Codex. Also verbrachte er unzählige Jahre in einem kalten Loch. Ja, auf den ersten Blick schien es nicht so schlecht mit den Farbenspiele an der Wand, aber diese waren nur dafür da, stundenlang seine Aufmerksamkeit daran zu verlieren. Auch konnte man manchmal Stimmen hören, wahrscheinlich von anderen Gefangenen. Sie klangen manchmal fröhlich, andermal durchgedreht wahnwitzig. Hatten sie von den Wein getrunken, der zum mardigen Essen gereicht wurde? Er konnte Alkohol noch nie ausstehen und so musste er sich mit dem dreckigen Wasser begnügen, was von der Decke tropfte.
Doch nun war er entkommen.
Irgendjemand musste ihm geholfen haben. Ein Freund? Es muss ein Freund gewesen sein. Niemand sonst würde ihm helfen. Vielleicht einer von der Wache? Jedenfalls fand er auf dem Weg nach draußen ein Schwert mit dem Siegel der Wache. Mit dem Ergreifen der Waffe fielen ihm wieder einige der Ordensregeln ein. ‚Regel Nummer 3: In Gefahren das Schwert immer vor Augen halten.‘ – “Immer vor Augen halten. Immer vor Augen halten. Immer vor Augen halten!“, sagte er zu sich selbst.
Seine Arme schmerzten.
Das fehlende Training und das wirklich schlechte Essen hatten ihn sehr geschwächt. Trotzdem hatte er es mit dieser einfachen Regel geschafft, einige der Wachen zu besiegen und aus der Festung zu entkommen. Irgendwie. Aber wie? Trotz Training hatte er es früher nie geschafft das Schwert nur 2 Minuten vor sich zu halten. 2 Minuten! Jetzt waren Tage, wenn nicht sogar Wochen vergangen, in denen er durch das Ödland streifte, das Schwert stets vor sich.
Ja, das Land außerhalb der dunklen Mauern war nicht besser, eher schlimmer, tödlicher. Solange man in der Grube war, hatte man keine Feinde. Hier gibt es nur Steine, Sand und diesen dichten Nebel, sonst nichts. Kein Baum, keinen Strauch und keine Wurzel, die man essen könnte.
Essen? Gegessen hatte er seit dem Ausbruch auch nichts. Bei den Gedanken daran meldet sich sofort sein Magen mit grausamen Schmerzen. ‚Wäre ich doch…‘ – „Nein!“, schrie er auf. ‚Regel Nummer 8: Immer auf das Ziel konzentrieren.‘ Auf das Ziel konzentrieren. Das Ziel, welches irgendwo hinter den Bergen, über den Fluss und dann…
Ein immer lauter werdendes, bedrohliches Pfeifen ließ ihn zusammenzucken. ‚Sie müssen gehört haben, wo ich bin.‘ dachte er und erinnerte sich an Regel 32: ‚Nicht murren‘ und schon schlugen die ersten Pfeile vor ihm in den Boden ein. Kein Stein oder Hügel könnte ihm hier Schutz bieten. Er war dem Tod schutzlos ausgeliefert.
Schutzlos?
Nein. Denn die Pfeile, die ihn hätten treffen können, zerschellten kurz vor ihm an einem kurz aufleuchtenden, aber sonst unsichtbaren Schild. In dem wilden Aufblitzen der am Schild aufprallenden Todesspitzen meinte er kurz, aber nur ganz kurz, ein Wappen zu erkennen. Sein Wappen. Aber so plötzlich wie das Schrecken kam, war es auch wieder vorbei und die Stille des grauen Nebels umhüllte ihn erneut. Das war nicht das erste Mal, aber immer wieder bestürzte es ihn, wie präzise die Pfeile auf ihn gezielt waren.
‚Regel 8 und Regel 11!‘ rief er sich wieder ins Gedächtnis und setzte unter höchster Anstrengung einen Fuß weiter vor.
Dann noch einen.
Und noch einen.
Immer so weit er sehen konnte –
Noch ein Schritt.
Der Nebel ist wirklich zäh –
Noch ein Schritt.
Er lichtet sich sobald er den Fuß hebt –
Noch ein Schritt.
Nun wurde der Boden zunehmend weicher –
Noch ein Schritt.
Schon fast wie ein Sumpf, in dem er bald kniehoch versank –
Noch ein Schritt.
Halt!
War da nicht gerade eine Stimme? ‚Jemand spricht zu mir.‘ Ein leises, zartes aber bekanntes Reden drang an sein Ohr. Es war erfrischend, wieder die Stimme eines Menschen zu hören.
Da war sie wieder.
‚Ich bin nicht alleine. Es muss da draußen noch andere geben.‘ dachte er. Aber wem konnte er hier vertrauen? Diese unfreundliche Umgebung könnte nichts Gutes bereithalten. ‚Wie unterscheide ich Freund von Feind?‘
Wieder die Stimme.
Aber niemand war zu sehen.
„Ist da jemand?“

– Stille –

Plötzlich wurde die Stille unterbrochen von einem immer lauter werdenden, bedrohlichen Pfeifen. Er zuckte kurz zusammen, vertraute dann wieder auf seinen Schild.
‚Wenigstens etwas, das sich nicht ändert. Die Pfeile und der Schild.‘

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