Leseprobe: „Ruben“

Leseprobe: „Ruben“

Mein Vater hat vor einigen Jahren angefangen eine Geschichte für uns Kinder zu schreiben. Diese ist ziemlich fertig, aber noch immer nicht gedruckt. Der eine oder andere geht mit prüfendem Auge durch die Seiten und versucht Fehler zu korrigieren. Kürzlich habe ich mich dran gemacht selber die Geschichte zu lesen und dazu meine Kommentare abzugeben. Da ich aber nicht genau sagen kann, wann das Buch wirklich in den Druck kommt, habe ich mir überlegt einen kleinen Ausschnitt hier zu veröffentlichen. Ich gebe euch quasi eine kleine Leseprobe.
Der folgende Text ist von Matthias A. Jurke geschrieben und die Bilder in diesem Beitrag, sowie das Titelbild, sind von Alexej Gregoriev gezeichnet.

Matthias Jurke – Ruben

Kapitel 6, Das verlassene Dorf Wibru

Die wenigen alten Bauernhäuser, die an der Hauptstraße zum Dorfplatz und zur Kirche hin standen, hatten wir bereits hinter uns gelassen. Uralte Kastanien und mächtige Eichen standen hier rechts und links am Straßenrand. Hinter den alten Bäumen auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes vor uns stand die alte Feldsteinkirche, die wir schon vor einer ganzen Weile vom Wald aus gesehen hatten. Im Gegensatz zu den halb verfallenen Bauernhäusern rechts und links von uns, sah die kleine Kirche noch so aus, als ob sie wie zum Trotz noch unversehrt geblieben ist.

Als wir schließlich vor der kleinen Mauer am Kirchhof angekommen waren, stiegen wir nun alle von unseren Pferden. Auch die anderen von uns nahmen nun ihre Schwerter in die Hand. Und so führte ein jeder von uns sein Pferd über den Friedhof auf die Feldsteinkirche zu. Kniehohes Gras streife uns. Den Weg zur Kirche hin war hier wohl schon lange keiner mehr gegangen. Eine fast beängstigende Ruhe lag in der Frühsommerluft. Nur der Wind, der unnachgiebig in die uralten Kastanienbäume am Rand des Kirchhofes bließ, war zu hören. Vor einem Grab blieb Nath plötzlich stehen. „Irgendetwas stimmt hier nicht“, sagte er leise – mehr zu sich selbst als zu uns. „Wieso?“ fragte Ööt unerwartet laut und poltrig, so dass ich fast etwas erschrocken darüber zusammenzuckte. „Ich weiß nicht, aber irgendetwas gefällt mir an dem Grab hier nicht“, sagte Nath dann noch einmal beim Weitergehen wieder in seinem Flüsterton. Auch ich schaute mir das Grab an. Aber ich konnte beim besten Willen nichts erkennen, was an diesem Grab so bemerkenswert sein sollte.

Zach und die anderen von uns waren in der Zwischenzeit schon weitergegangen und standen unmittelbar vor der Kirche. Auch wir beeilten uns nun, schnell wieder zu ihnen zu kommen.

Die hohen kleinen Fenster der Kirche waren restlos zerschlagen. Auch die Tür am Turm, die in das Innere der Kirche führte, war zertrümmert. Wir banden unsere Pferde an einen Flock vor der Kirche und gingen langsam durch die Tür in das Innere der alten Kirche. In der Kirche war es fast dunkel. Nur spärlich kam das Licht durch die kleinen Fenster und durch die ebenfalls offene, zerschlagene Tür an der Südseite der Kirche. Unsere Augen brauchten einen Augenblick, bis sie sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten. In der Kirche war auch alles verwüstet. Der Altar, der Beichtstuhl, Bilder und auch alle anderen Einrichtungsgegenstände in der Kirche fehlten oder lagen zertrümmert herum. Trockene Blätter, die wohl der letzte Herbststurm durch die zerbrochenen Fenster und durch die offenen Türen in das Kircheninnere geweht hatte, lagen überall herum. In der Mitte des Raumes muss vor längerer Zeit einmal ein recht großes Feuer gebrannt haben. Zerbrochene Bretter, verkohlte Holzreste und Asche lagen rund um eine Feuerstelle. Und über die Feuerstelle war die Decke vom aufgestiegenen Ruß vollkommen schwarz. „Wie eine Kirche sieht das nicht gerade aus“, sagte Ähnas leise, ohne dass er seinen Mund dabei öffnete. Obwohl er diese Worte fast geflüstert hatte, hallte seine Stimme so sonderbar in dem leeren Kirchenraum, dass er selbst etwas erschrocken darüber war. Aber mit dem, was Ähnas sagte, hatte er natürlich recht. Durch die hohen Mauern und die kleinen Fenster erinnerte der Raum mehr an eine geplünderte und verlassene Burg als an ein Gotteshaus.

Vorsichtig und langsam gingen wir weiter durch den fast dunklen Kirchenraum. Nath war der erste, der sein Schwert wieder eingesteckt hatte. „Trotzdem“, so sagte er nach einem Moment mit fester Stimme. „Dieses Haus hier wurde einmal zur Ehre Gottes erbaut. Menschen kamen hier her, um hier heilige Stille vor Gott zu finden und um den ewigen Gott für seine Allmacht und Liebe zu preisen“.

Bild
Die Kirche zu Wibru

„Schaut euch einmal die Mauern an“, sagte Layla und schlug mit ihrem Schwert gegen die großen, grob behauenen Feldsteine, aus denen die gesamte Kirche gebaut wurde. Diese überaus alte Kirche mit ihren wuchtigen Felssteinwänden und mit ihren kleinen Fenstern, die von unten wie Schießluken aussahen, war Gotteshaus und nahezu uneinnehmbare Festung zugleich.

„Kommt!“, sagte Ööt dann auf einmal. „Ich möchte auf den Turm steigen. Kommt ihr mit?“ Ohne zu zögern liefen wir darauf hin zurück zum Turm. Eine enge Treppe führte hinter einer kleinen Seitentür nach oben in den Turm. Auf allen Vieren, wie Katzen, kletterten wir an der steilen Treppe nach oben.

„Schaut, die beiden Kupferglocken sind noch da. Sie sind den Räubern noch nicht zum Opfer gefallen“, rief uns Ööt von oben entgegen, der vor uns als Erster den Glockenraum erreichte. Layla, die gleich nach ihm bei den Glocken war, ging langsam zu der größeren Glocke. Unerwartet flogen zwei Tauben aus dem oberen Gebälk aus ihrem Nest an unseren Köpfen vorbei und verschwanden durch das offene Fenster. Erschrocken zuckte ich zusammen. Auch Layla hatte sich erschrocken gebückt. Ganz vorsichtig, fast etwas ängstlich ging sie nun wieder zu der großen Glocke. Langsam ging sie um die Glocke herum und buchstabierte „gloria in exelsis deo et in terra pax.“ In der Zwischenzeit standen wir alle vor den beiden Glocken. „Was heißt das?“ fragte ich. „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden“, sagte Layla, indem sie mit ihrem Schwert leicht gegen die Glocke schlug. Ein zitternder Klang erfüllte den Glockenraum. Ööt, der es nicht erwarten konnte, ganz nach oben zu kommen, war in der Zwischenzeit schon an den Glocken vorbei über eine steile Leiter weiter nach oben gestiegen. Schnell stieg ich hinter ihm her.

Eine herrliche Aussicht bot sich uns von hier oben. „Schau!“ rief Ähnas, „ein See“. Friedlich spiegelten sich Erlen und die dicht bewaldeten Hügel in dem tiefblauen Wasser des Sees. Ein warmer Sommerwind wehte über die verwilderten Felder zu uns herauf. Einfach wunderschön war es hier oben.

„Jungs!“ und so riss mich Zach aus meinen Träumen. „Wir haben momentan kein zu Hause. Seit Wochen sind wir nun unterwegs und suchen, obwohl wir nicht einmal wissen, wonach wir suchen. Wir bleiben hier. Dieses Dorf soll unser Dorf werden. Wir haben hier einen See und damit auch genügend Fische. Hier gibt es viele Wälder und da werden wir auch Wild und Waldfrüchte finden. Und wie es aussieht, gibt es hier auch recht fruchtbaren Boden und nicht nur Sandboden wie auf dem Weg hier her nach Wibru. Wir bleiben hier.“

 

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